Am gestrigen Mittwoch fand sie statt: EU-Kommissionspräsident Junckers Rede zum Stand der Europäischen Union, die „State of the European Union Speech“. Das besondere diesmal war: Jean-Claude Juncker wandte sich damit direkt an die Europäischen Bürgerinnen und Bürger. Etwas, das sein Vorgänger, Herr Barroso, nicht einmal versucht hatte zu tun.
Juncker argumentierte, er appellierte, er zog historische Referenzen, er griff Vorurteile scharf an, und er bat die Europäische Öffentlichkeit, sich der Dimension der Herausforderungen, der sich die EU gegenübersieht, in vollem Umfang zu stellen. Damit war Präsident Juncker gestern wirklich der politische Präsident, der er versprochen hatte zu sein. Die Rede war kein business-as-usual. Juncker sprach stürmisch und mitreisend, er appellierte an Europas Stolz und Europas Werte, um mehr Europa, und mehr Gemeinschaft, mehr Union, in die Europäische Union zu bringen.
Ganze drei Viertel seiner Rede widmete Juncker der derzeitigen Flüchtlingskrise – und das war eine gute Entscheidung. Er vertrat eine klare progressive Position in Bezug auf die Notwendigkeit, dass sich Europa öffne um das humanitäre Desaster zu bewältigen; dass es nun galt, Asyl zu gewähren, um menschenwürdig zu handeln. Ich habe mich über Junckers Ansatz gefreut und unterstütze ihn; seine starken Gefühle für Europa und die Klarheit mit der er zum Handel aufruft. Ich meine: Junckers gestrige Rede war die beste State of the European Union Rede die es bisher gab.
Schließlich sprach Juncker noch über Griechenland, über Investitionen, die Ukraine, die Sicherheitslage der Baltischen Staaten, TTIP, Klimawandel und andere Themen. So stark der erste Teil seiner Rede war, so viel blieb beim zweiten leider zu wünschen übrig.
Insgesamt jedoch zeigte sich Juncker, indem er den leidlichen Zustand der EU nicht einfach schönredete, durchaus als jemand, der Standards setzen kann. Standards, die für Europa Hoffnung entfachen.
Einen Nachtrag zu Präsident Junckers wichtiger Rede zur Flüchtlingspolitik muss ich aber noch anfügen: Nachdem Juncker das Parlament schon verlassen hatte, sprach auch der erste Vizepräsident der Europäischen Kommission Frans Timmermans zu dem Thema. Und Frans Timmermans klang ganz anders als Juncker. Hatte Juncker zum Beispiel im Hinblick auf die sogenannten sicheren Herkunftsländer betont, dass dadurch keinesfalls der individuelle Anspruch auf Prüfung eines Asylantrages ausgehebelt würde, so ließ Timmermans diesen elementaren Hinweis schlicht weg. Und Timmermans setzte, anders als Juncker, starke Akzente etwa beim militärischen Kampf gegen Schlepper. Es scheint also, als gebe es in dieser Frage nicht nur in der EU überhaupt und in einzelnen Mitgliedsländern, sondern auch in der europäischen Kommission einen “Kampf zweier Linien”. Die Zivilgesellschaft muss sich aktiv einmischen, um zu verhindern, dass die Linie des außerordentlich selbstbewussten sozialdemokratischen ersten Vizepräsidenten sich praktisch durchsetzt und Junckers große Rede damit de-facto in der Realität zur Seite geschoben wird.
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