Letzte Woche habe ich zum ersten Mal Kommissar Hill live erlebt. Jonathan Hill, Lord Baron of Oareford, der Vertreter ihrer Majestät in der Europäischen Kommission, hat von Präsident Juncker bei der Aufgabenverteilung das Finanzmarkt-Ressort (Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion) bekommen. Als Genie galt er nicht und manche witzelten, Präsident Juncker habe ihm diese Aufgabe vor allem deswegen zugewiesen, weil man in diesem Bereich seitens der Öffentlichkeit einen Vertreter der City of London besonders genau auf die Finger schauen würde; er habe also nach dem Motto gehandelt: gib den Briten, was sie wollen, und mach eine kleine Gemeinheit daraus.
Kommissar Jonathan Hill präsentierte letzte Woche im Industrieausschuss seine Überlegungen zur “Kapitalmarktunion”. Wie gerade mittelständische Unternehmen in den verschiedenen europäischen Ländern verlässlichen Zugang zur Finanzierung ihrer Investitionen finden können, ist schließlich eine zentrale Frage der Industriepolitik. Kommissar Hill präsentierte also sein Grünbuch. Wer es nachlesen will, findet es hier. Der Ausschuss war höflich. Alle dankten allen. Für die Grüne Fraktion durfte ich ein paar Fragen stellen. Ich fragte vor allem nach Konzepten, die im Grünbuch fehlten.
Das Grünbuch spricht davon, dass die Kapitalmarktunion unter anderem die Erträge der Kapitalmärkte für die Wirtschaft, für Jobs und Wachstum maximieren solle. Aber nirgends ist von der Förderung von Nachhaltigkeit die Rede. Ist Nachhaltigkeit nicht offiziell ein Ziel, eine Priorität sogar, der europäischen Politik? Ist diese Auslassung nicht besonders merkwürdig, angesichts des Umstandes, dass die UNEP erst im vergangenen Jahr eine Untersuchung über ein nachhaltiges Finanzsystem gestartet hat und die EU-Kommission noch 2013 zusammen mit der UNEP für eine Energy Efficiency Financial Institutions Gruppe eintrat. Hills Antwort (in meinen Worten): Wir reden nicht von Nachhaltigkeit, aber das ist natürlich gemeint.
Von der CO2-Blase ist im Grünbuch auch nicht die Rede. Hat Hill nicht mitbekommen, dass auf Grund einer von unserer Fraktion finanzierten Studie herauskam, wie viel Anlagen Banken, Pensionsfonds und Versicherungswirtschaft in der EU in CO2-intensive Industrien gesteckt haben: 1 Billion Euro? Hat Hill nicht mitbekommen, dass die Bank of England und zuletzt auch Präsident Draghi von der EZB signalisiert haben, man müsse sich diesem Thema widmen (Draghi versprach in einem Brief auf Grüne Initiative, der neue wissenschaftliche Beirat des European Systemic Risk Board werde sich dem Thema widmen)? Hill verstand die Frage gar nicht. Er hatte offensichtlich von “carbon bubble” noch nie gehört.
Am peinlichsten aber war, dass sich in dem Grünbuch zur Frage der Digitalisierung fast nichts findet. Am Rande wird Digitalisierung einmal erwähnt, weil sie u.a. Aktionären eine elektronische Abstimmung ermöglicht oder weil sie zu Kostensenkungen beitragen kann. Aber nichts zu der revolutionären Wirkung, die die Digitalisierung im Finanzsektor haben wird, wenn Internet-Giganten wie Google, Paypal, Apple oder auch aus China Tencent, Xiaomi und Alibaba in den traditionellen Bankensektor eindringen. Durch die Verwendung von Big Data ist Paypal heute im Kreditgeschäft schon wesentlich ertragsstärker und risikoärmer als jede konventionelle Bank. Der weitere Fortgang der Digitalisierung in diesen Bereich dürfte nach allgemeiner Einschätzung sehr viele Arbeitsplätze kosten und die Verhältnisse, wie gesagt, völlig umstürzen. Ich warf Kommissar Hill vor, dass er an dem Punkt in ganz peinlicher Weise hinter dem Mond lebe. Hills Antwort: gar keine. Weder wies er den Vorwurf zurück, noch fiel ihm etwas dazu ein, noch machte er auch nur den Versuch, die Lücke zu bemänteln.
Vielleicht hatte er ja nur einen besonders schlechten Tag. Sonst würde ich sagen, man muss sich um den Finanzplatz London ernste Sorgen machen.
Im Februar schon hatten übrigens einige Finanzmarktakteure wie Alliance Trust, Hermes Investment Management, Aviva Investors oder Cornerstone Capital Group an Kommissar Hill geschrieben und ihn auf Themen wie “rewards for long-term success”, “increasing responsible ownership”, oder “better dialogue between the public and the private sector” angesprochen. Der Brief findet sich weiter unten. Ich würde gerne eine Antwort von Jonathan Hill lesen, aber ich fürchte es wäre kein Vergnügen.
Aber Politik soll ja nicht Spaß machen, wie Winfried Kretschmann immer sagt, sondern Sinn.
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