– Ersterscheinung in “Die Pfalz, Ausgabe 3/2012” – abrufbar im Original hier
Es gibt nicht wenige Zeitgenossen, die bei dem Argument, die aktuelle Krise der Eurozone und die reale Gefahr ihres Auseinanderbrechens bedeute zugleich eine gefährliche Krise des ganzen europäischen Integrationsprojektes der letzten sechs Jahrzehnte, gelangweilt oder gar ärgerlich die Achsel zucken. Ja, sagen sie, die Einigung Europas ist in der Tat seit 60 Jahren ein Synonym für Frieden und Stabilität, aber was hat das mit dem Euro zu tun?
War der nicht von vornherein ein viel zu ehrgeiziges Projekt, das in Anbetracht der großen wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede der beteiligten Länder einfach bei der ersten großen Krise außer Kontrolle geraten musste? So, wie sie jetzt verfasst ist, könne die Eurozone nicht weiter funktionieren. Solle Griechenland doch austreten aus der Eurozone oder, auch das ist zu hören, Deutschland. Dann trenne sich eben, was (noch) nicht zusammen gehöre.
„Mehr Europa“ wagen
Für richtig halte ich an solchen Überlegungen nur einen Gedanken: So, wie es ist in der Euro-Zone, kann es nicht bleiben, bleibt es nicht. Wir müssen eine Richtungsentscheidung treffen. Wollen wir die Euro-Zone erhalten, dann müssen wir bereit sein für „mehr Europa“ in ökonomischen und fiskalischen Fragen. Bringen wir den politischen Willen dafür nicht auf, dann folgt daraus über kurz oder bald danach ein Zerfall der gemeinsamen Währungszone. Und, das möchte ich im Gegensatz zu der eingangs zitierten Meinung argumentieren, mit einem Zerbrechen der gemeinsamen Währung wäre ein dramatischer Rückschlag für das gesamte Integrationsunterfangen verbunden. In einem Europa, das den ökonomischen Kern der gemeinsamen Währung verlöre, würden die zentrifugalen Tendenzen Oberhand gewinnen. Wenn das Paradigma von der „ever closer union“ scheiterte, das seit den Römischen Verträgen galt, dann folgte darauf kein politisches Vakuum, das uns allen eine Auszeit von der Geschichte einräumt, um noch einmal gründlich über mögliche Optionen zu brüten, sondern es würden die falschen Propheten nationalen Eigensinns auftreten und mit gegenreformatorischem Eifer Europas Zukunft auf den Altären ihrer althergebrachten Götzen opfern.
Kein neuer Nationalismus
Zu besichtigen sind sie ja schon allerorten, die zentrifugalen Kräfte, die alten und neuen Nationalisten und Chauvinisten unterschiedlichster Couleur. Sie tragen verschiedene politische Namen, sie gerieren sich populistisch oder wissenschaftlich, sie kommen aggressiv daher oder inszenieren sich als Opfer „der Anderen“ – gemeinsam haben sie, dass sie einer untergegangenen Welt nachtrauern und nachträumen, der Welt, in der die Nationalstaaten politisch das Maß aller Dinge waren und, jedenfalls, wenn sie halbwegs mächtig waren, hoffen konnten, ihre Souveränität für sich alleine wirksam auszuüben. Diese Welt von gestern ist längst ersetzt durch eine Welt, die durch ihre dramatisch gewachsene global verflochtene, gegenseitige Abhängigkeit geprägt ist. Es kann uns heute eben nicht egal sein, ob, wie Bismarck einmal sagte, irgendwo hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen, oder in China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt. Nicht egal, ob im Südchinesischen Meer die Anrainer friedlich miteinander auskommen, ob die Arktis zum neuen Konflikt-Theater vielfältiger Rohstoff-Interessen wird, ob im Nahen Osten und in Asien immer neue Atommächte entstehen und ob die Etablierung von Demokratien an Stelle autoritärer Regimes Frieden und Freiheit und Sicherheit stärken. Ebensowenig kann es uns egal sein, ob das Ziel offenen und fairen Welthandels durch die Etablierung regionaler Einflusszonen ersetzt wird, ob der außer Kontrolle geratene Klimawandel doch noch eingehegt werden kann.
Dass uns all diese und viele andere Fragen in grundlegenden Werten und Interessen berühren, sagt ja nun noch nichts darüber aus, ob Europas Staaten auch nur ansatzweise über die Fähigkeit verfügen, diese Werte und Interessen angemessen zu vertreten. Aber es müsste eigentlich allen einleuchten, dass es vor dem Hintergrund der globalen Verschiebung von Macht und Einfluss selbst derzeit noch so einflussreichen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich oder Deutschland auf Dauer nicht gelingen wird, aus eigener Kraft wirksam mitzuspielen. Entweder Europa wird gemeinsam ein Pol sein in der neuen multipolaren Welt, oder es wird Objekt sein anderer Akteure.
Abgeben von Souveränität nötig
Die EU muss sich nicht, wie viele Föderalisten meinen, zu den so oft berufenen „Vereinigten Staaten von Europa“ mausern, um auf der Höhe der Geschichte agieren zu können. Aber die Mitgliedsländer müssen auf vier zentralen Gebieten in Zukunft ihre Souveränität stärker gemeinsam wahrnehmen: im Bereich der Wirtschaftsordnung, im Bereich der Außenpolitik, beim Außenhandel und in der globalen Umweltpolitik. Eine gemeinsame Währung ist ein zentrales Erfordernis einer hinreichend aufeinander abgestimmten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wenn wir sie jetzt verlören, wäre in den nächsten 20 oder 30 Jahren ein weiterer Anlauf kaum vorstellbar. Die relative Schwäche der einzelnen Mitgliedsländer der EU jeweils für sich allein würde sich dadurch ja aber nicht ändern. Was bliebe ihnen?
Sie müssten sich einen anderen Halt suchen zum Anlehnen. Oder sie würden sich vielleicht auch Angeboten ausgesetzt sehen, die sie nicht ablehnen können. Vielleicht würden sich manche Länder eine Weile der Illusion hingeben, auf eigene Faust zurechtzukommen. Aber die Gesetze der ökonomischen und politischen Schwerkraft sind kein Wunschkonzert. Europa ist längst nicht mehr der Nabel der Welt. Europa spielt im 21. Jahrhundert gemeinsam eine Rolle oder – keine.
Fehler der Währungsunion überwinden
Jacques Delors, der große Europäer, hat die Herausforderung Europas einmal in einem sehr eingängigen Bild beschrieben. Europa sei wie ein Fahrrad, sagte er; es falle um, wenn es sich nicht vorwärts bewege. Wir sollten uns auch aktuell vorwärts bewegen und die Fehler der Währungsunion, wie sie ist, überwinden durch neue Verabredungen zur gemeinsamen wirtschaftlichen und fiskalischen Governance.
Kein Zweifel: Kostenlos ist ein solcher Weg nicht zu haben. Irgendeine gemeinsame Verantwortung für einen Teil der Staatsschulden muss es geben, plus Unterstützung für südeuropäische Länder bei der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit. Aber alle Alternativen werden teurer.
Reinhard Bütikofer ist Sprecher der Europagruppe Grüne im Europäischen Parlament.
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