Erschienen im bundeswehr-journal, Ausgabe 2/2012 (8.Jahrgang), abrufbar im Original hier.
Europa droht beim Projekt “Pooling and Sharing” zu scheitern
Lernen auf die harte Weise: Libyen und die neue US-Strategie
Die letzten 12 Monate haben den Europäern und insbesondere uns Deutschen zwei harte strategisch-militärische Lektionen beschert. Sie sind mit dem Libyen-Einsatz der NATO und mit der neuen U.S.-amerikanischen Sicherheitsstrategie verbunden. Beide weisen glasklar in eine und dieselbe Richtung, sind Anlass zur Sorge und werden doch in Berlin allenfalls intern in Fachkreisen diskutiert. Wenn bereits die sicherheitspolitischen Experten in Politik, Militär und Wissenschaft sich durch Zurückhaltung auszeichnen, muss niemanden wundern, dass es keinerlei breite öffentliche Debatte über die Zukunft der Einsatzfähigkeit des NATO-Bündnisses und der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gibt. Allerdings ist das fatal.
Egal, wie man politisch zum NATO-Einsatz in Libyen steht – der von Frankreich und Großbritannien geführte Einsatz hat eine Realität an den Tag gebracht, die all diejenigen erschrecken muss, die meinen, dass Europa zumindest über beschränkte, militärische Einsatzfähigkeiten verfügen sollte. Zwar kann der Libyen-Einsatz als Erfolg betrachtet werden, weil die militärischen Ziele alle erreicht wurden und im Vergleich zu anderen Interventionen nur geringe Opfer unter der Zivilbevölkerung verursacht wurden. Doch das strategisch Bemerkenswerte an diesem Einsatz war die Tatsache, dass er nur in recht beschränktem Umfang wirklich ein europäischer war. Ohne die massive Unterstützung durch die USA im Bereich von Aufklärung, Smart Bombs etc. wären die beiden größten Armeen Europas vielleicht an Gadhafis Söldnertruppe gescheitert. Oder es hätte aus Mangel an präzisen Informationen und Smart Bombs sehr viele Opfer unter Zivilisten gegeben, was die öffentliche Meinung in Europa hätte sich wohl gegen den Einsatz gekehrt hätte. Kurz: Sogar die beiden großen militärischen Kräfte in Europa können mit ihren immer noch relativ hohen Verteidigungsbudgets keinen Einsatz dieser Größenordnung leisten.
Die zweite Lektion ist, dass die USA so klar wie noch nie zuvor uns Europäern und dem Rest der Welt kommuniziert haben, wo ihr sicherheitspolitischer und militärischer Fokus von nun an liegen wird: im asiatisch-pazifischen Raum. Die relevanten strategischen Dokumente lassen diesbezüglich an Klarheit nichts zu wünschen übrig und die praktischen militärischen Konsequenzen werden durch die Umstrukturierung der US-Kräfte in Europa und die Entsendung von zusätzlichen maritimen Kräften in den Pazifik längst Stück für Stück umgesetzt. Das bedeutet für Europa, dass die USA nicht mehr automatisch mit ihren Kapazitäten bereit stehen um eklatante europäische Fähigkeitslücken auszufüllen. Eine Umkehr dieser strategischen Entwicklung ist nicht zu erwarten, denn es gibt für sie in den USA Unterstützung aus beiden Parteien. Verteidigungsminister Panetta hat das zuletzt bei seinem Auftritt vor dem Shangri-La Dialogue Forum in Singapur bekräftigt.
Zusammen genommen führen die hier angerissenen Lektionen zu einer nicht zu ignorierenden Konsequenz. Europa muss, ob in NATO oder EU, ein eigenständiges und einsatzfähiges Set an Fähigkeiten entwickeln, wenn es in Zukunft militärisch zumindest auf Konflikte niedriger oder mittelhoher Intensität in seiner näheren Nachbarschaft vorbereitet sein will.
Die Verteidigungshaushalte
Das ewige Lamento über die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der meisten Europäer, wenigstens 2% in Militärausgaben zustecken, war aus Washington beim Abgang von Verteidigungsminister Gates noch einmal zu hören. Nachfolger Panetta hat sich damit, insofern Realist, nicht lange aufgehalten. Die Debatte ist lange vorbei, zumal im Angesicht der Finanzkrisen. Zudem gehöre ich nicht zu denjenigen, die der Annahme folgen, man könne direkte Rückschlüsse von der Höhe der Verteidigungshaushalte auf die Fähigkeiten und die Einsatzfähigkeit ziehen. Gerade der Libyen-Einsatz zeigt, dass zwei große Nachbarländer, die mehr als 2% ihres Bruttoinlandproduktes für Verteidigung ausgeben und eine “Tradition” der Auslandseinsätze haben, anscheinend nicht auf der Höhe waren. Man kann auch viel Geld unwirksam investieren. Mir fallen dabei etwa die Nuklearstreitkräfte beider Nationen ein, die Unsummen verschlingen. Aber auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern wird trotz Finanzkrise und schrumpfender Verteidigungshaushalte weiter in Projekte investiert, bei denen es wohl in erster Linie um Wirtschaftsförderung oder Industriepolitik geht. Aber weniger um effektive Sicherheit oder den Schutz der Soldatinnen und Soldaten, die, wenn schon, mit möglichst guter Ausrüstung in Einsätze geschickt werden sollten. Man könnte hier für Deutschland Projekte wie MEADS nennen.
Was folgt aus alledem? Wenn alle europäischen Staaten gravierende Fähigkeitslücken haben und nicht in der Lage sind, jenseits von reinen Stabilisierungsmissionen gemeinsame Missionen zu unternehmen; wenn alle Europäer einen enormen Druck auf ihre Verteidigungshaushalte erleben und vom Trend her das Geld in diesem Bereich eher knapper als üppiger werden wird; wenn Europa zu seiner Sicherheit aber andererseits mehr selbst wird leisten müssen, dann gibt es eine einzige rationale Antwort: Kooperation, Kooperation, Kooperation!
Der Prozess vor Pooling and Sharing
Um den Pooling und Sharing Prozess zu verstehen, muss man einen Schritt zurückgehen. 1999 hatten die Staats- und Regierungschefs der EU mit den Helsinki Headline Goals beschlossen, bis 2003 50-60 000 Kräfte inklusive Marine und Luftwaffe für zwei parallele Missionen, die innerhalb von 60 Tagen starten sollten und bis zu einem Jahr dauern sollten, zu generieren. 2003 waren die Fähigkeiten jedoch de facto nicht verfügbar, und so beschloss man das gleiche Ziel für 2010. Um die Fähigkeiten zu generieren, wurden Capability Commitment Conferences abgehalten und Fähigkeitskataloge geführt. Die verschiedenen Produkte wie European Capability Action Plan, Capability Development Mechanism, Capability Improvement Chart und Progress Catalogue konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass man sich über 11 Jahre lang primär damit beschäftigte, regelmäßig Lücken zu identifizieren.
Ein Lichtblick war in dieser Zeit die Schaffung der Battle Groups 2007, deren Methodologie strikter war und auch zu mehr oder weniger tatsächlich einsatzfähigen, wenn auch sehr kleinen Einheiten führte.
Im Herbst 2010 initiierten der schwedische und deutsche Verteidigungsminister dann den totalen Systembruch beim Treffen in Gent: Sie schlugen Pooling und Sharing vor. Die Methode besteht darin, dass alle Mitglieder all ihre Fähigkeiten unter verschiedenen Kategorien auf ihre Kooperationsfähigkeit hin screenen: 1) Solche, die sie als exklusiv national einschätzen; 2) Solche, die geteilt und 3) Solche, die gepoolt werden können. Die neue Methode sollte zu ganz vielen ganz konkreten Kooperationsprojekten führen. Man vermutetete nämlich, dass die meisten Fähigkeiten im Bereich Pooling and Sharing liegen würden. Im Dezember 2010 wurde die Initiative auch offiziell durch einen Beschluss der Minister eine EU-Initiative.
Bis zu Frühjahr meldeten die nationalen Generalstäbe bis zu 300 potentielle Pooling and Sharing Projekte an den Vorsitzenden des EU-Militärausschusses. Zusammen mit den nationalen Stellen und der europäischen Verteidigungsagentur wurde bis zum November 2011 an konkreten Projekten gearbeitet. Im November wurden dann zwölf konkrete Projekte beschlossen. Weitere könnten theoretisch folgen.
Das EP fordert Weimar als Motor
Das Europäische Parlament hat diesen Prozess besonders intensiv im zweiten Halbjahr 2011 durch den so genannten Lisek-Bericht zum Verteidigungssektor und der Finanzkrise begleitet. Mit der Annahme des Berichtes ist dem Parlament sicherlich ein guter Beitrag zur Debatte gelungen, doch auch hier war auffällig, wie peripher die Diskussion um Leadership und politischen Willen geführt wurde. Egal, ob Konservative, Sozialisten oder Liberale, keinem fiel auf, dass der politische Motor für das ganze Unterfangen gar nicht mehr rund drehte und dass der Prozess deswegen bereits kurz nach dem Start erheblich ins Stottern geraten war. Zwar waren die nationalen und europäischen militärischen Experten in der Lage, hunderte von Ideen zu entwickeln, doch für deren Umsetzung brauchte es die Politik und Willen und eben Leadership.
Wir haben als Grüne deswegen das Weimarer Dreieck, also Polen, Frankreich und Deutschland als potentiellen Motor für Pooling and Sharing ins Spiel gebracht. Theoretisch wäre zumindest Pooling and Sharing ein ideales Feld für die drei Länder, die aufgrund ihrer Größe und Struktur ein inhärentes Interesse an besonders intensiver Kooperation haben müssten. Parallel zu unserem Werben für das Weimarer Dreieck hatten drei führende Denkfabriken aus Polen, Frankreich und Deutschland in einem Papier eben dies gefordert und drei kurz- bis langfristige Weimar Pooling and Sharing Projekte vorgeschlagen.
Man muss leider sagen, dass sich Berlin, d.h. insbesondere die Bundesregierung und ganz im besonderen der aktuelle deutsche Verteidigungsminister als Haupthindernis für eine Weimar-Rolle im Pooling and Sharing Prozess herauskristallisiert hat. Die recht europaskeptische Haltung des Ministers war ja bereits mehrfach in Interviews nachzulesen, doch hatte anscheinend auch das Werben der Partnerländer keinerlei Effekt.
Die Zeit läuft ab
Deutschland ist das Land, welches am meisten von der militärischen Westbindung in der Vergangenheit und in der Gegenwart profitiert. Deutschland wird diese Dimension der Westbindung de facto aufgeben, wenn es sich nicht im Pooling and Sharing Prozess so engagiert, wie es seiner Größe und Struktur eigentlich entsprechen würde. Da die NATO mit Smart Defense ein zu Pooling and Sharing identisches Programm fährt und es in der Hinsicht keinerlei Konkurrenz gibt, verwundert die Haltung der Bundesregierung noch mehr. Auch die USA sind offene und uneingeschränkte Unterstützer von Pooling und Sharing, weil sie ganz klar sehen, dass es die einzig verbleibende Möglichkeit ist, zumindest ein Minimum an militärischer Handlungsfähigkeit in Europa zu generieren. Doch die Zeit läuft gnadenlos ab. Die aktuellen zwölf Projekte werden wohl leider nicht den Schub bringen, der die Lage tatsächlich verändern wird. Herr Verteidigungsminister, übernehmen Sie!
Photo: Air-to-Air-Refuelling, ein Projekt des Pooling and Sharing.
Photo credit: expertinfantry (FlickR)