Europäische Wirtschaftsregierung – oder was?

Europäische Wirtschaftsregierung – oder was?

Diskussionspapier von Reinhard Bütikofer, Sven Giegold, Helga Trüpel und Franziska Brantner

Rechtzeitig zur Grünen Bundesdelegiertenkonferenz in Kiel habe ich mit drei Kollegen/Kolleginnen ein Diskussionspapier geschrieben, in dem wir unsere Überlegungen zur verbindlicheren wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenarbeit in der EU darlegen. Eine Debatte dazu ist ausdrücklich erwünscht!

24.11.11

 

Zu sagen, die EU müsse in der aktuellen Krise ihr Scheitern eingestehen, wäre defätistisch. Aber die EU und insbesondere die Euro-Zone müssen eingestehen, dass ohne stärkere und stärker gemeinsam organisierte und demokratisch legitimierte wirtschaftspolitische Verantwortung das Scheitern des europäischen Einigungsprojektes droht.

 

Das institutionelle Ergebnis der bisherigen Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten zur Meisterung der europäischen Krise ist ein informelles deutsch-französisches Direktorat unter deutscher Führung, genannt „Merkozy“, das den Europäischen Rat mit dem dort geltenden Konsensprinzip als sein wesentliches Instrument nutzt und teilweise in Kooperation, teilweise im Konflikt mit dem ansonsten einzigen verbliebenen Akteur, der EZB, dem Rest EU-Europas weitestgehend die Bedingungen diktiert. Das geht über reine Wirtschaftspolitik deutlich hinaus. So wurde Papandreou erst gehalten, dann vom Plebiszit abgehalten und danach durch Fachleute ersetzt, Berlusconi gestürzt und Monti auf den Schild gehoben.

 

„Merkozy“ ist die real existierende Wirtschaftsregierung Europas. Sie hat allerdings weder vermocht, der Krisendynamik Herr zu werden, noch hat sie die Erhöhung nationalistisch gefärbter Spannungen innerhalb der EU wirksam einhegen können. Das „Merkozy“-Direktorat hat immer wieder nur unzureichende Krisenmangement-Fähigkeit in letzter Minute bewiesen, den Sturz in den Abgrund verschoben. Als Modell für eine funktionierende economic governance der EU taugt es nicht.

 

Die Gemeinschaftsinstitutionen Europäisches Parlament und Europäische Kommission sind in der Krise auf die reine Gesetzgebungsfunktion beschränkt worden, beim Krisenmanagement  spielen sie nur eine kleine Nebenrolle. Dabei haben sie durchaus gezeigt, dass sie in der Lage sind, zur strengeren Finanzmarktregulierung und -aufsicht, zur Krisenlösung und zur besseren “economic governance” (wir verwenden den Begriff “economic governance”, weil die geläufige  Übersetzung “Wirtschaftsregierung mehr verunklart als erklärt). konstruktiv beizutragen. Das Parlament hat das etwa im Rahmen der Sixpack-Gesetzgebung zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts oder beim Verbot von ungedeckten Leerverkäufen demonstriert; die Kommission etwa durch ihre hilfreichen Vorschläge zu Eurobonds oder zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

 

Die Entscheidungsstruktur bei der Krisenbewältigung, die wir gegenwärtig vorfinden, ist nicht nur uneffektiv, sondern hat auch ein massives demokratisches Defizit. Der Fortschritt des Lissabon-Vertrages bei der Durchsetzung des qualifizierten Mehrheitsprinzips wurde über den Europäischen Rat rückgängig gemacht. Die Gemeinschaftsmethode wird ausgehebelt.  Eine demokratische Kontrolle durch nationale Parlamente oder das Europäische Parlament ist kaum gegeben.

 

Während die nationalstaatlichen Krisenmanager der europäischen Krise hinterher stolpern und dabei die mangelnde Eignung der gegebenen institutionellen Verfassung immer wieder sichtbar machen, ist die Diskussion darüber, wie – aus der Krise lernend – die europäische Wirtschaftsverfassung für die Zukunft aufgestellt werden sollte, noch nicht wirklich breit begonnen worden. Wer nicht will, dass diese Zukunfts-Diskussion auf ein „Merkozy“-Diktat verkürzt wird oder bestenfalls intergouvernemental bestimmt wird, muss deshalb unbedingt die Debatte mit eigenen Vorschlägen forcieren. Das wollen wir tun.

 

Unrealistisch ist die Vorstellung, es sei möglich, durch eine erneute Vertragsänderung alle notwendigen Kompetenzen einer europäischen economic governance bei der Europäischen Kommission zu konzentrieren. Das wäre noch nicht einmal wünschenswert, weil die Mitgliedsländer aus ihrer Mitverantwortung für die proaktive Durchsetzung einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik weitgehend entlassen wären. Dass „Brüssel“ alles an sich reiße, könnte zu einer mächtigen Mobilisierungsmelodie für Nationalisten und Chauvinisten werden. Gefährlich, weil Europa auseinander dividierend, ist auch jeder Versuch, die Eurozone in ihrer derzeitigen Zusammensetzung institutionell auf Kosten der Gemeinschaftsinstitutionen zu organisieren. Das müsste zu enormen Spannungen führen mit den Ländern, die den Euro noch nicht nutzen, aber vertraglich dazu verpflichtet sind ihn später einzuführen. Ein Euro-Zonen-Parlament oder ein reiner Euro-Zonen-Mitglieder- Ausschuss  im Europäischen Parlament ist daher abzulehnen.

 

Eine wirksame europäische economic governance kann nur zustande kommen, wenn die Mitgliedstaaten wichtige ökonomische Souveränitätsrechte künftig gemeinsam wahrnehmen. „Gemeinsam wahrnehmen“ ist kein Synonym für die Abtretung solcher Rechte an eine Zentralinstanz, sondern bedeutet ein Verfahren, in dem die Mitgliedstaaten sich gemeinsam in die gemeinsamen Angelegenheiten einmischen. „Gemeinsam wahrnehmen“ bedeutet zudem die Wiedergewinnung von Souveränität, denn der Grad der gegenseitigen Abhängigkeiten hat längst autonome nationalstaatliche Entscheidungen auch im Bereich der Haushalts- und Steuerpolitik faktisch unmöglich gemacht. Die Rettung von Banken wie von Staaten beruhte schließlich nicht auf der Ausübung freier Souveränität sondern auf purer Notwendigkeit.

 

Institutionell wären sechs Elemente wichtig für einen solchen Ansatz:

 

Der Währungs- und Finanzkommissar der Europäischen Kommission sollte künftig als Vizepräsident derselben vom Europäischen Rat vorgeschlagen und, anders als die Hohe Vertreterin für Außenpolitik, in einem gesonderten Wahlgang vom Europäischen Parlament gewählt werden. Er ist zuständig für die Durchführung des Europäischen Semesters, sitzt zugleich der Euro-Gruppe und den Finanzministerräten vor. Er hat die Aufgabe festzustellen, ob ein Mitgliedstaat sich in seiner Haushalts- und Wirtschaftspolitik nicht an die Verträge hält (wobei die EU 2020-Agenda neben dem Stabilitäts- und Wachstums-Pakt und dem Verfahren übermäßiger Ungleichgewichte ebenfalls und gleichrangig zu berücksichtigen sind) und gegebenenfalls angemessene Eingriffe in dessen Entscheidungen vorzuschlagen. Anpassungsmaßnahmen können im Bereich der Leistungsbilanzen sowohl von Defizit- wie von Überschuss-Ländern verlangt werden.

 

Der Finanzministerrat kann vom Kommissar vorgeschlagene Maßnahmen aufgehalten nur mit qualifizierter Mehrheitaufhalten. Findet sich eine solche Mehrheit im Ministerrat nicht, dann sind seine Vorschläge für den Mitgliedstaat verbindlich. Das Europäische Parlament hat gegenüber dem Währungskommissar volles Informationsrecht, etwa durch eine vierteljährliche Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Währung, und kann mit Mehrheit verlangen, vor dem Vorschlag des Kommissars und vor dem Beschluss des Ministerrates gehört zu werden. Es kann mit qualifizierter Mehrheit Änderungen verlangen, die nur bei Übereinstimmung von Kommissar und qualifizierter Ministerratsmehrheit übergangen werden können.

 

 

Gegen die Verletzung der Pflicht zur Durchführung von Anpassungsmaßnahmen können auf Vorschlag des Währungskommissars Sanktionen verhängt werden. Gegen Entscheidungen des Währungskommissars, des Europäischen Parlaments oder des Finanzministerrates im Zusammenhang mit Anpassungsmaßnahmen sowie gegen Entscheidungen von Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von ihnen gemachten Auflagen kann der Europäische Gerichtshof  durch die Europäische Kommission, durch die qualifizierte Mehrheit des Europäischen Parlaments, die qualifizierte Mehrheit der Finanzministerrates oder durch den betroffenen Mitgliedstaat angerufen werden.

 

Die Einhaltung der Vorgaben des erneuerten Stabilitäts- und Wachstumspakts zu Schuldenabbau und Defizitbegrenzung ist ohne die Verstärkung der steuerpolitischen Zusammenarbeit der EU-Staaten unrealistisch. Deshalb müssen steuerliche und soziale Mindeststandards im Mitentscheidungsverfahren entschieden werden. Beschlüsse im Sinne einer Europäischen Steuerpolitik inklusive der Festsetzung von Mindeststeuersätzen, der Angleichung von Regeln und der Bekämpfung von Steuerflucht und Steuervermeidung können so gefasst werden. Ebenso können im Rahmen dieses Verfahrens sozialpolitische Mindestanforderungen verlangt werden, die aber unterschiedliche nationale Sozialsysteme weiterhin ermöglichen müssen.

 

Die Ausgabe von Euro-Bonds, neuerdings von der EU-Kommission Stabilitätsbonds genannt, wird durch einen Europäischen Währungsfonds durchgeführt, der dem Währungskommissar untersteht und sowohl dem Finanzminister-Rat wie dem Europäischen Parlament jährlich berichtet und von beiden Institutionen mit qualifizierter Mehrheit entlastet werden muss. Damit wird die EZB von ihrer inzwischen faktisch fiskalpolitischen Rolle entlastet und der EFSF/ESM zu einer europäischen Gemeinschaftsinstitution.

 

Der Haushalt der Europäischen Union wird stärker auf Eigensteuern gegründet und soll mittelfristig nicht auf knapp 1% des europäischen BIP begrenzt bleiben, sondern den zugewiesenen Aufgaben entsprechend ansteigen. Im Gegenzug werden die Beiträge der Mitgliedstaaten verringert. Als erste Eigensteuer wird eine Finanztransaktionssteuer eingeführt. Beschlüsse über die europäischen Eigensteuern werden im Mitentscheidungsverfahren zwischen Parlament und Rat getroffen.

 

 

Ohne Vertragsänderungen sind diese sechs institutionellen Reformen nicht zu erreichen. Deshalb setzen wir uns für die Einberufung eines Konventes ein, der solche Reformen transparent und unter breiter BürgerInnenbeteiligung ausarbeiten kann. Die Annahme solcher Vertragsänderungen durch die Mitgliedstaaten sollte – und müsste in Deutschland aus Verfassungsgründen zwingend! – mit Volksentscheiden verbunden werden, die idealiter zu einem gemeinsamen Zeitpunkt in ganz EU-Europa durchgeführt werden sollten. Die Mitgliedstaaten, die in diesen Volksentscheiden zustimmen, schließen sich damit zu einer erneuerten europäischen Wirtschaftsunion zusammen, während Ablehnung Ausscheiden aus der Wirtschafts- und Währungsunion bedeutet.

 

Kann ein solcher Reform-Plan verwirklicht werden? Ganz sicher gelingt das nicht, wenn die Aufgabe der Gestaltung einer starken europäischen Wirtschaftsunion dem intergouvernementalen Ringen im Europäischen Rat überlassen wird. Aber in einer Großen Zusammenarbeit von Europäischem Parlament mit nationalen Parlamenten, Europäischer Kommission, für Reformen offenen Mitgliedstaaten und europäischer Öffentlichkeit kann ausreichend Bewegung erzielt werden, dass ein solcher Plan gelingt.