Vor einem Jahr in der Nacht zum 1. Dezember 2009 wurde ein neues Kapitel der Geschichte der europäischen Einigung aufgeschlagen. Doch kündeten weder große Feierlichkeiten noch Staatsakte vom Inkrafttreten des „Vertrags von Lissabon“. Es endete ein über zehn Jahre langer, von vielen Rückschlägen gezeichneter Prozess hin zu einer transparenteren, bürgernäheren Europäischen Union. Konnte man auch den Eindruck bekommen, die EU habe sich da mit letzter Kraft über die Ziellinie gerettet, in der Sache war es ein großer Fortschritt. Erstmals in der Geschichte unseres Kontinents mit seiner wechselvollen Vergangenheit verständigten sich die „Völker Europas“ auf eine rechtsverbindliche Grundrechtecharta. Die Bürgerinnen und Bürger können in Zukunft mit Hilfe der neugeschaffenen „Bürgerinitiative“ ein direktes Wort „in Europa“ mitreden. Das Europäische Parlament erhält mehr Mitspracherechte gegenüber der Europäischen Kommission und Rat der EU. Die Steuermittel für die milliardenschweren Agrarausgaben werden zukünftig ebenso wenig alleine in Hinterzimmerrunden zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten verhandelt werden können, wie Fragen der Innen- und Rechtspolitik.
Wir Grüne waren von Anfang an für eine weitere Vertiefung der Europäischen Union, die die europäische Integration nicht eben nur als grenzfreien Binnenmarkt versteht, sondern sich auf die Werte der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität stützt und ein politisches Gleichgewicht setzt. So war es der grüne Außenminister Joschka Fischer und die Grüne Fraktion im Europäischen Parlament, die Initiativen für einen Europäischen Konvent ergriffen haben, der dann später den Grundstein für den heutigen „Vertrag von Lissabon“ legte. Trotz der vielen Rückschläge, die den Ratifizierungsprozess in einigen Mitgliedsstaaten immer wieder zurückwarfen und 2005 nach verlorenen Referenden in Frankreich und den Niederlanden zwischenzeitlich gar zum Erliegen gebracht haben, war es unserer Ansicht nach die richtige Entscheidung, das Projekt im Rahmen des
„Vertrags von Lissabon“ fortzuführen. Wir Grüne hätten uns an vielen Stellen einen einfacheren und „Grüneren“ Vertrag gewünscht. Noch immer gibt es Politikbereiche, in denen vor allem die Mitgliedsstaaten die europäische Politik bestimmen und die nationalen Einzelinteressen europäische Lösungen oftmals blockieren. Mit EURATOM hat die Risikotechnologie Atomkraft auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch immer eine ungerechtfertigte Sonderstellung. Die Debatte über eine europäische Wirtschaftsregierung zeigt, dass in diesem Bereich über „Lissabon“ hinaus führende Integrationsschritte notwendig sind. Schließlich bringt der Lissabonner Vertrag leider keine substanziellen Verbesserungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. So lange in einem freien, europäischen Binnenmarkt keine verbindlichen europäischen Standards in der Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik existieren, bleibt die europäische Integration unvollständig. Gewiss, der Lissabon-Vertrag ist nicht die finale Vertragsgrundlage für die Europäische Union. Wir akzeptieren aber, dass in solch einem Prozess alle Seiten Kompromisse eingehen müssen, solange die Grundrichtung stimmt, und diese heißt unzweifelhaft, dass die Europäische Union demokratischer und transparenter geworden ist. Der Vertrag von Lissabon ist ein wichtiger Schritt hin zu unserem Langfrist-Ziel einer echten Europäischen Verfassung.
Der in Kraft getretene Vertrag muss nun mit Leben gefüllt werden. Das schließt erhebliches Machtgerangel zwischen europäischen Institutionen sowie Mitgliedsländern ein. Das Veto des Europäischen Parlaments zum so genannten SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten von EU Bürgern an die USA zeigte aber bereits, dass sich die Spielregeln der Macht auf europäischer Ebene in Richtung mehr Demokratie verändern.
Der Reader zum Vertrag von Lissabon soll eine Übersicht geben, welche Veränderungen und neuen Rechte der „Vertrag von Lissabon“ mit sich bringt und zeigen, wie Sie davon Gebrauch machen können. Und vielleicht fühlen Sie sich nach seiner Lektüre ja auch ermutigt, sich selbst aktiv(er) in die Gestaltung der Zukunft Europas einzubringen.
Den Reader können Sie hier herunterladen.