Aktuell gibt es schätzungsweise vierzig Länder, die sowohl das Material als auch die Kenntnisse haben, um innerhalb kürzester Zeit zum Atomwaffenstaat zu werden. Die strategische Gefahr, die von dieser Tatsache ausgeht, steht in einem merkwürdigen Missverhältnis dazu, wie still es lange um das Thema nukleare Abrüstung war. Im Mai steht die nächste Revisionskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NVV) an. Wird sie als Chance genutzt oder verstreicht sie wie die letzte wirkungslos?
Den Aufschlag für neue Abrüstungsanstrengungen machte US Präsident Obama. Vor einem Jahr hielt er die bemerkenswerte Rede in Prag, in welcher er das Ziel der totalen globalen nuklearen Abrüstung formulierte. Das hatten bis dahin nur NGOs, die grünen Parteien, einige Linke und neutrale Länder wie Schweden und Österreich vertreten.
Auf die Rede folgten alsbald Taten: Der UN-Sicherheitsrat übernahm auf US-Initiative am 24. September 2009 mit Resolution 1887 die Zielsetzung. In diesem April einigten sich nicht nur Präsident Medwedew und Präsident Obama auf eine Reduktion ihrer strategischen Waffen und Trägersysteme auf über 30%, sondern der US Präsident schwor auch beim Nuclear Security Summit über 40 Staats- und Regierungschefs auf einen besseren Umgang mit nuklearen Materialien ein, um die drohende unkontrollierte Verbreitung einzudämmen. Zudem machte die Obama-Administration mit der am 6. April 2010 veröffentlichen Nuclear Posture Review deutlich, dass die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen deutlich höher gesetzt wird. All dies unternahm die Supermacht nicht nur, um den Handlungsdruck auf Iran und Nordkorea zu erhöhen und das russisch-amerikanische Verhältnis zu verbessern, sondern auch um die im Mai anstehende Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages kraftvoll anzuschieben.
Ist die Abrüstungsbotschaft angekommen bei Europäern, Schwellenländen und undeklarierten Atomwaffenstaaten? Es wird nicht reichen sich jetzt damit zu befassen, dass Atomwaffen nicht Terroristen in die Hände fallen. Die Nukleargefahr ist nur zu meistern wenn sich die Staatengemeinschaft insgesamt von der Vision der totalen nuklearen Abrüstung leiten lässt. Sportlich formuliert: Ohne Teamspiel, dem sich niemand entziehen darf, verlieren alle.
Die EU-Staaten, insbesondere die 21 NATO-Mitglieder unter ihnen, haben die Möglichkeit, beim aktuellen Gipfel in Tallinn dazu beizutragen, dass nukleare Abrüstung mit Glaubwürdigkeit versehen und das globale Regime des Atomwaffensperrvertrages, welches sich in einer permanenten Krise befindet, gerettet wird. Insbesondere das Neue Strategische Konzept der NATO muss sich diesem Ziel verschreiben, will die Organisation strategische Bedrohungen wirksam reduzieren.
Zu allererst könnten die Außenminister in Tallinn die nukleare Teilhabe als Relikt des Kalten Krieges für beendet erklären und einen Zeitplan zum Abzug der ca. 200 taktischen US-Atomwaffen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei beschließen. Die nukleare Teilhabe datiert nicht nur aus einer anderen Ära, sondern unterminiert de facto auch stark den NVV: Offizielle Nichtatomwaffenstaaten sind durch das Teilhabe-Konzept im Kriegsfall plötzlich mit Atomwaffen ausgestattet. Damit war eine Bewaffnung durch die Hintertür von der NATO eingeführt worden, denn was zählt, waren natürlich die Kapazitäten eines Mitgliedes im Kriegsfall. Ein solcher Beschluss muss natürlich auch im NATO-Russland-Rat diskutiert werden. Wichtig für das Sicherheitsempfinden der neuen NATO-Staaten in Mittel- und Osteuropa ist, dass auch von russischer Seite entsprechende Waffen beseitigt werden.
Damit es nicht nur zu einer ost- und mitteleuropäischen atomwaffenfreien Zone kommt, sondern auch zu einer gesamteuropäischen, muss noch viel, insbesondere innereuropäisch, diskutiert und überzeugt werden. Kanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle müssen, wenn sie es ernst meinen, zu einer quasi Shuttle-Diplomatie mit London und Paris übergehen. Denn am wenigsten Bewegung gibt es zurzeit in der Frage der Abrüstung “westeuropäischer” Atomwaffen in Frankreich und Großbritannien. Während die britische Regierung wohl auch aufgrund der angespannten Haushaltslage potentiell bereit wäre das Trident-Programm zu reduzieren, erscheint Frankreich als sehr harter Knochen. Sarkozy hatte den Nuclear Security Summit in Washington dazu benutzt, um noch mal deutlich zu machen, dass sein Land zwar von anderen Abrüstung und bessere Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung erwarte, jedoch selbst weder an seiner Nukleardoktrin, noch den konkreten Kapazitäten irgendetwas ändern würde.
Darüber hinaus gehört Frankreich mit Russland und den USA zu den drei Ländern, die massiv auf Export von Nukleartechnologie in Risikoregionen setzen, um Handelsgewinne zu erzielen. Im Gegensatz zur Mehrheit der EU-Staaten hatte Frankreich den so genannten US-Indien-Deal zur nuklearen Zusammenarbeit ausdrücklich begrüßt. Entgegen dem NVV befinden sich die USA, Frankreich und Russland im scharfen Wettbewerb um die Lieferung von Nukleartechnologie nach Indien, obwohl das Land immer noch nicht Mitglied des NVV geworden ist. Ähnlich problematisch ist die französische Exportpolitik gegenüber Libyen. Frankreich hat mit Ghadaffi bereits mehrere Verträge in diesem sensiblen Bereich unterschrieben.
Damit das Nuklearspiel in Richtung Global Zero in Schwung bleibt, müssen die 21 EU-Staaten in der NATO ebenfalls erhebliche Anstrengungen unternehmen. Das NATO-Außenministertreffen wäre eine erste und gute Gelegenheit dazu.