Von Reinhard Bütikofer
Barack Obama hat am 4. November 2008 eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen von rund 54 Prozent errungen. Die Demokraten haben ihre vorher schon klare Mehrheit im Repräsentantenhaus um rund 20 Sitze ausgebaut und auch im Senat dazu gewonnen, nämlich von 51 auf 59 von 100 Sitzen. Auf den ersten und auch zweiten Blick ist das eine beeindruckende Machtposition.
Die demokratische Mehrheit – wenig ertragreich
Bei näherem Hinsehen muss man im Urteil vorsichtiger werden. Die demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus war in den vergangenen zwei Jahren nicht nur deswegen wenig ertragreich, weil Präsident Bush ständig mit seinem Veto dazwischen fahren konnte. Auch intern gab es erhebliche Differenzen. Linksliberale Abgeordnete und konservative „blue dog democrats“ gerieten nicht selten aneinander, auch ökologisch Progressive und Vertreter von Wahlkreisen, in denen Auto- oder Kohle- oder andere konventionelle Industrieinteressen dominieren. Die Führung durch Nancy Pelosi war nicht immer geschickt.
Durch die neu dazu gestoßenen Abgeordneten, die zuvor republikanisch kontrollierte Wahlkreise erobern konnten, wird nicht der progressive Flügel gestärkt. Wie viele werden es sein, die eine durchgreifende Reformpolitik unterstützen? Norman Birnbaum, der Sozialist und Nestor der linken demokratischen Intellektuellen, verweist in einem Artikel nicht nur darauf, dass demokratische Mehrheiten noch zu Beginn der Reagan-Ära deutlich größer waren, sondern warnt auch vor einer euphorischen Betrachtung der Zusammensetzung der demokratischen Mehrheit.
Nur etwa 80 Repräsentanten (von insgesamt 435!) gehörten dem Progressive Caucus an und nur etwa 25 der Senatoren hätten nach europäischen Maßstäben sozialdemokratische Positionen. Insgesamt, so Birnbaum, sei die US-Linke „ein ungeordnetes Bündnis von kulturellen, wirtschaftlichen, ökologischen, ethnischen und rassischen Interessengruppen ohne einigenden Nenner oder ein historisches Projekt“ und das spiegele sich im Parlament. Man kann hinzufügen, dass die US-Linke im “coalition building”, das heißt in puncto Kompromissfähigkeit um strategischer Ziele willen in den letzten Jahren nicht eben besonders erfolgreich war.
Wenig Franktionsdisziplin und schwierige Genossen
Im Senat gibt es erheblich weniger Fraktionsdisziplin als in den meisten parlamentarischen Gremien. Und programmatische Geschlossenheit auch nicht. Ein Senator, der in seinem Heimatstaat ein kleiner König ist und in Washington einem wichtigen Ausschuss vorsitzt oder in ihm die Mehrheit bestimmen kann, ist schwer zu bewegen. Im Senat könnten Obama zusätzlich dessen eigentümliche Verfahrensregeln in die Quere kommen. Um dort eine Gesetzgebung gegen energische, aufschiebende Obstruktionstaktik der Minderheit durchzusetzen, braucht es 60 Stimmen. Die 59, die die Demokraten allenfalls haben, rechnen aber schon Senator Joe Lieberman mit, der in wichtigen Fragen den Republikanern näher steht.
Dass auch die Gouverneure nicht unbedingt einfache Genossen sein werden, auch wenn ihre Mehrheit den Demokraten angehört, wurde vor Kurzem deutlich. Mehrere prominente demokratische Gouverneure, darunter Ed Rendell von Ohio, der Barack Obama gegenüber vorher schon sehr selbstbewusst aufgetreten war, protestierten öffentlich gegen die Idee, im Rahmen der Wirtschaftsankurbelung stark auf Öko- und Energiesparinvestitionen zu setzen. Sie wollten es einfach und konventionell: Straßenbau und Co.
Bei keinem der organisationsfähigen Machtfaktoren Industrie, Lobbys, Gewerkschaften und Blogosphäre hat Obama von vorn herein ein Heimspiel. Aus der Industrie wird Obamas Wahlkampfversprechen, die Organisierung von Gewerkschaften zu erleichtern, massiv bekämpft.
Gegen die Banken, die das ihnen zugewiesene Rettungspaket nicht im Sinne verstärkter Kreditvergabe nutzen, muss er sich erst durchsetzen, was Bush und seinem Finanzminister nicht gelang. Die Energiekonzerne sind nicht Obamas Freunde, von Ausnahmen wie Duke Energy einmal abgesehen. Die Automobilbranche wird weiter Staatsknete fordern und scheint kurzfristig kaum in der Lage, ihre Misere zu wenden. Vielleicht ist noch am ehesten die IT-Branche für Obama zugänglich, aus der ihn im Wahlkampf Spitzenmanager wie der Google-Chef sichtbar unterstützten.
Obama – doch „mittiger“ als im Wahlkampf?
Mächtige Lobbys wie die der Waffen-Narren stehen dem Demokraten skeptisch bis feindlich gegenüber. Die Gewerkschaften sind, selbst wenn sie über Obamas Sieg jubeln, schwach, strategisch noch uneinig und oft engstirnig. Teilen der Blogosphäre ist Obama bereits vor Amtsantritt nicht liberal genug gewesen. Die Sorge, dass dort außerordentlich große Erwartungen in entmutigende Enttäuschung umschlagen, muss nicht für die nächsten Monate im Zentrum stehen, kann aber nicht völlig von der Hand gewiesen werden, wenn Obama, was unvermeidlich scheint, „mittiger“ regiert als er Wahlkampf gemacht hat.
Und wie ist es mit dem Machtfaktor der öffentlichen Meinung? Die öffentliche Meinung ist schon eine ganze Weile „in love“ mit Obama. Sie wird es nicht bleiben, wenn sie einmal zur Auffassung gekommen ist, dass die Wirtschaftskrise oder der Irakkrieg oder welches geerbte Problem auch immer jetzt Obama „gehören“, also von ihm zu verantworten sind. Ronald Reagan wurde die schwierige wirtschaftliche Lage nach einem Jahr Amtszeit zugerechnet, wie viel er auch immer beim Amtsvorgänger Carter abzuladen suchte, und in der Zwischenwahl nach den ersten zwei Jahren verloren die Republikaner Sitze.
Es bleiben für die Betrachtung die Wählerinnen und Wähler selbst. Auch da sollte der Blick auf einige Zahlen Nüchternheit lehren. Solche Zahlen hat etwa der republikanische Umfragen-Experte David Winston parat. Nur 40 Prozent aller Wähler identifizierten sich im November mit den Demokraten. 33 Prozent waren Republikaner und 28 Prozent – Unabhängige. Letztere hat Obama jedenfalls nicht in der Tasche. Wird ein Teil von ihnen sich stärker auf die Demokraten orientieren und damit Obama eine dauerhaftere Vorherrschaft an den Wahlurnen sichern, oder haben sie, wie Winston glaubt, vor allem deshalb 2008 und auch schon 2006 in großer Zahl demokratisch gewählt, weil die Republikaner mehr den Gegner zu verteufeln trachteten als überzeugende eigene Inhalte anzubieten? Wie viel besser hätte McCain abgeschnitten, wenn er zur Wirtschaftskrise etwas zu sagen gehabt hätte?
Es gibt widersprüchliche Umfragezahlen, die man als Beleg für eine gewisse Ambivalenz der Wählerinnen und Wähler lesen kann. Einerseits verortet sich die US-Wählerschaft auf einer Skala von 1 = liberal bis 9 = konservativ im Durchschnitt leicht rechts der Mitte bei 5,88. Ihr Abstand zu Obama, der bei einem Wert von 3,99 wahrgenommen wurde (und damit noch etwas „linker“ als die Demokraten im Kongress mit 4,09!), wäre damit deutlich größer als der zu McCain, der wie die Republikaner im Kongress bei 6,3 landete. Andererseits gewann Obama bei Wählergruppen, die die Republikaner früher mehrheitlich hinter sich hatten. Bei Katholiken erzielte er einen Vorsprung von 13 Prozent, während es 2004 einen geringen demokratischen Rückstand gab. Bei verheirateten Frauen mit Kindern, die sich selbst rechts vom Durchschnitt einstufen, gewann Obama mit 4 Prozent gegenüber 9 Prozent Rückstand in 2004. Und bei mittleren Einkommen gab es eine ähnliche Trendumkehr zugunsten Obamas.
Obama hat ein Mandat für Change
Die These vieler Republikaner ist, dass Obama kein Mandat für eine ganz andere Politik gewonnen habe, dass er nicht für seine Richtung eine Mehrheit bekommen habe. Es sei nur ein neues Management gewählt worden, nicht eine neue Produktpalette. Dem kann man die beschriebene Tatsache entgegen halten, dass die Mehrheit an den Urnen offenbar sehenden Auges bereit war, für Positionen zu stimmen, die sie eindeutig linker fand als ihre eigene.
Trotzdem bleibt mindestens eine Frage: Werden sie für Obama kämpfen, wenn er auf Widerstand stößt, oder haben sie ihm nur einen widerruflichen Auftrag erteilt, damit er es an ihrer statt regle, weil es grade kein anderes Angebot gab?
Ich bin überzeugt, Obama hat ein Mandat für Change. Aber das wird nicht reichen, und Obama selbst weist unablässig darauf hin. Change braucht mehr als eine neue Administration, Change braucht das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in den Mühen der Ebene. Der Linke Norman Birnbaum glaubt, Obama werde mit seiner Agenda nur erfolgreich sein, wenn eine breite soziale Bewegung ihn stütze. Diese Bewegung müsste vor allem die Jugend tragen. Bei der Jugend hatte Obama einen Vorsprung gegenüber McCain von 29 Prozent. Die Jugend verfügt über die internetbasierten kommunikativen Voraussetzungen für Kampagnenfähigkeit. Die Jugend ist am wenigsten festgefahren.
Wird Obama darauf setzen, eine solche Bewegung aufzubauen? Zumindest scheint er sich entschieden zu haben, dass er seine im Wahlkampf aufgebauten Kommunikationsstrukturen weiter nutzen will. Aber er wird auch massiv um die geistige Hegemonie kämpfen müssen. Das wird wahrscheinlich sein wichtigster Kampf werden. Roosevelt hat einen solchen Kampf im New Deal gewonnen. Obama kann das auch, glaube ich. Dabei steht er aber, obwohl er schon Präsident ist und das Handeln in vielen Bereichen einfach nicht aufschieben kann, eher am Anfang. Es wird verteufelt schwer.
Reinhard Bütikofer war von 2002 bis 2008 einer der beiden Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen.
Bildnachweis: OBAMA!! YES WE CAN! von threecee – Lizenz: CC-BY-NC-SA