In Brüssel herrscht politische Sommerpause. Gestern waren die Gänge im Europäischen Parlament schon weitgehend ausgestorben. Heute früh habe ich mich auch aus dem Staub gemacht. Jetzt werde ich in Karlsruhe, Freiburg, Haßfurt, München, Tübingen und Danzig noch über Europa diskutieren. Dann sind Ferien.
In den letzten Tagen spiegelte sich in den Themen, denen ich mich zu widmen hatte, noch einmal die irre Mischung aus Hoffnung und Furcht auf Aufbruch, Stillstand und Rückschritt, wieder, die die gegenwärtige politische Situation in Europa kennzeichnet. Diese Widersprüchlichkeit der Lage stellt ja durchaus einen Fortschritt dar. Es ist noch nicht lange her, dass die Zukunft der EU von vielen nur schwarz in schwarz gemalt wurde, dass es schien, als läge die große Verheißung des europäischen Projekts schon hinter uns. Als gehe es nur noch darum, dass der unweigerliche Abstieg nicht ganz so plötzlich und brutal über uns komme. Das war, bevor die Anführer der autoritären Bewegungen in mehreren Ländern Europas bei Wahlen deutlich hinter ihren eigenen Erwartungen zurückblieben. Das war, bevor das Brexit-Chaos in Großbritannien überall in Europa viele „europaskeptische“ Flausen austrieb. Das war, bevor Putin, Trump, Erdoğan und Xi Jinping uns, jeder in seiner eigenen Weise, vor Augen führten, dass die europäischen Werte, auf die man sich routinemäßig bezieht, eine sehr praktische Bedeutung haben. Trump werde möglicherweise in den nächsten Jahren den Aachener Karlspreis bekommen, weil er durch sein abschreckendes Beispiel so viel für die Einheit Europas getan habe, sagte kürzlich ein Spötter. Über Putin gab es den Spruch auch schon. Es schwingt in solchen Aussagen die Frage mit, ob es uns Europäern wohl gelingen werde, durch positive Errungenschaften das Projekt Europa weiterzuentwickeln, ob kreative Kräfte freigesetzt werden, ob vielleicht der europäische Traum wieder neu geträumt wird, oder ob das Aufbegehren gegen die zuvor verbreitete Düsternis nur aus vorübergehenden Abwehrreflexen gespeist sei, nur einen Aufschub bedeute vor der Rückkehr des Pessimismus.
Ich habe in den letzten Wochen viele Gründe gesehen, nicht nur mit dem berühmten Optimismus des Willens, sondern auch frohgemut für Europa einzutreten. Aber es wäre eine Selbsttäuschung, anzunehmen, dass wir „über dem Berg“ seien. In meinem politischen Alltag war zum Beispiel ermutigend, bei zwei hochkarätigen Veranstaltungen zu Green Finance zu sehen, wie im Zusammenhang der ökologischen Transformation neue Allianzen möglich werden, an die noch vor wenigen Jahren weder wir Grüne noch relevante Akteure der Finanzbranche geglaubt hätten. Tatsächlich aber entwickelt sich parallel zur Divestment-Bewegung, die den Ausstieg aus fossilen Energien vorantreibt, eine Green Finance-Szenerie, bei der Europa weltweit eine führende Rolle spielt. Positiv war für mich auch, in den letzten Tagen mehrfach zu erleben, wie sehr die Forderung nach einer kohärenten europäischen – nicht nur deutschen – Industriepolitik inzwischen bei wichtigen Wirtschaftsbranchen und Unternehmen auf Resonanz und Rückhalt stößt. Ich gehe inzwischen davon aus, dass der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Union Mitte September dazu mindestens strategische Ideen vorlegen wird. Zuletzt hatte das Europäische Parlament in die Richtung noch einmal entschieden Druck gemacht. Mir gefällt außerdem, dass für das heftig umstrittene Projekt einer zusätzlichen deutsch-russischen Gaspipeline durch die Ostsee (Nordstream 2) Stück für Stück Boden verloren geht. Es ist damit zu rechnen, dass die Europäische Kommission nach der Sommerpause ein Mandat zu Verhandlungen mit Russland bekommen wird, das für Gazprom, Gerhard Schröder und Putin einen massiven Rückschlag bedeutet. Diese drei Positivthemen aus dem Umfeld meiner Tätigkeit mögen nicht jedermanns Prioritäten sein; sie zeigen aber, dass an wichtigen Stellen Bewegung möglich ist und tatsächlich stattfindet.
Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass Italien von seinen europäischen Partnern bei der Flüchtlingsfrage sträflich alleingelassen wird, was sich bei den Wahlen im nächsten Frühjahr bös rächen kann. Besonders negativ ist daneben die Entwicklung in Polen. Die liberale Gazeta Wyborcza schrieb, Polen habe aufgehört, ein Rechtstaat zu sein. Die brutalen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz sollen offensichtlich dem PiS-Regime ermöglichen, seine Gegner juristisch verfolgen zu lassen und zugleich garantieren, dass die Kaczyński-Truppe auch die nächste Wahl gewinnt, egal wie diese ausgeht. Dazu hört man leider aus Brüssel und Berlin vornehmlich Schweigen. Zögerlichkeit. Ausreden. Dabei müssen wir in dieser Sache kämpfen und uns nicht scheuen, Polen gegebenenfalls das Stimmrecht in europäischen Ministerräten zu entziehen.
Ich bin sicher, bei den meisten Kollegen der grünen Europafraktion würde die persönliche Bilanz zu den von ihnen bearbeiteten Themen ähnlich gemischt ausfallen. Wir haben, so kann man es in einem Satz zusammenfassen, wieder mehr Mut und weniger Depressionen und auch eine reale Fighting chance, aber es gibt eben nach wie vor viele Konflikte, an denen Europa auch scheitern kann. Ermutigend finde ich in dieser Situation, dass, so meine Beobachtung, das Interesse an Europapolitik im anlaufenden Bundestagswahlkampf höher ist als zuvor. Eine Herausforderung ist es natürlich für uns Grüne, dass Frau Merkel es schafft, einen erheblichen Teil der Aufmerksamkeit für Europa auf ihre politischen Mühlen zu lenken. Sie verkündet, sie habe bei Europa zuletzt gründlich dazugelernt. Bleibt aber die Antwort weitgehend schuldig auf die Frage, was dies denn nun bedeute. Ich habe gegenüber dieser Haltung nur sehr geringen Respekt und ich glaube nicht, dass es eine starke Haltung ist. Ich bin überzeugt, die Zeit geht zu Ende, in der sich sehr viele gern haben einlullen lassen, weil ja das Land vermeintlich in guten Händen sei. Ich glaube, wir Grüne können bei dieser Bundestagswahl mit klaren Positionen zur europäischen Zukunft durchaus etwas gewinnen. Im Endspurt nach der Sommerpause kann die Europapolitik eines der Themen sein, die uns Dynamik verschaffen und dazu beitragen, dass wir tatsächlich unser Ziel erreichen, am 24. September den dritten Platz zu erobern.
Schöne Ferien übrigens.
Sonst noch
- Bundestagswahlkampf: Heute Abend bin ich in Karlsruhe mit Sylvia Kotting-Uhl. Die nächsten Termine sind am 20.07. in Freiburg und Haßfurt, am 21.07. in München, Ebersberg und Rosenheim und am 22.07. in Tübingen.
- Am kommenden Sonntag (23.07.) reise ich nach Danzig, um mich dort unter anderem mit Jugendlichen aus ganz Europa, polnischen Grünen, dem Bürgermeister Biedroń, dem ehemaligen polnischen Staatspräsident Wałęsa und dem Danziger Stadtpräsident Adamowicz zu treffen.
- Der Deutschlandfunk berichtete über die Reaktion der EU-Kommission auf die geplante Justizreform in Polen und dem Zustand des Rechtstaats in dem Land. Hier der Bericht mit einem Zitat von mir.