Der 23. Juni 2016 wird als rabenschwarzer Tag erinnert werden. Die Brexit-Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreiches, die mit einem Vorsprung von deutlich mehr als eine Million Stimmen noch nicht einmal extrem knapp ausfiel, bedeutet sowohl für die Britinnen und Briten als auch für die übrigen 27 Mitgliedsländer der EU einen außerordentlich tiefen negativen Einschnitt. Die bisher zweitgrößte Volkswirtschaft der EU wird damit ringen müssen, ob das Land nicht in Folge der Brexit-Entscheidung in mehrere Teile auseinanderbricht. Eine wirtschaftliche Schwächung würde Großbritannien allerdings selbst dann erleiden, wenn es diesem Schicksal die Stirn bieten könnte. Für die EU auf der anderen Seite wird die Brexit-Entscheidung zum Fanal für eine immer höher kochende Unzufriedenheit, die, verbunden mit einem gehässigen und gefährlichem Anti-Eliten-Populismus, de-facto die Legitimität von Gemeinschaftsinstitutionen, Gemeinschaftsentscheidungen und gemeinsamen Zielen der Europäischen Union untergräbt.
Was findet da eigentlich statt? Wieso verliert die Europäische Union, die noch vor rund zehn Jahren, nach dem die europäische Spaltung von Jalta überwindenden Beitritt von zahlreichen neuen Mitgliedsländern, einen grandiosen historischen Erfolg feiern konnte, so drastisch an Zustimmung? Wieso steht inzwischen ihre weitere Zukunft ernsthaft in Frage?
Der Europäische Binnenmarkt und insbesondere die Währungsunion seien von vorne herein aussichtslos falsch konstruiert gewesen, sagen manche Kritiker von ganz Rechts, und ganz Links, sowie zahlreiche Vertreter US-amerikanischer Finanzorthodoxie. Man habe in fahrlässiger Verkennung der Risiken zu viele Länder in die EU bzw. in die Eurozone aufgenommen, wird hinzugefügt. Unsere Wirtschaftsverfassung in EU-Europa sei schlicht eine Schönwetterveranstaltung, nicht gemacht für wirkliche Stürme. Selbst wenn ich einräume, dass der Vorwurf „Schönwetterkonstruktion“ nicht ganz falsch ist, dass die Bedingungen nicht stimmten, unter denen Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen wurde, dass eigentlich von vorne herein klar war, der Wirtschafts- und Währungsunion werde man eine politische Union an die Seite stellen müssen, selbst wenn ich das alles zugestehe, überzeugt mich die Behauptung trotzdem nicht, dass die aktuelle Krise der EU diesen Gründen zuzuschreiben sei. Denn es stellt sich die Frage, wieso die EU, die mehr als irgendeine andere internationale Organisation die Kunst des pragmatischen Kompromisses über so viele Jahre geübt hat, unter den aktuellen Bedingungen nicht hätte in der Lage sein sollen, pragmatische Auswege zu finden.
Dass uns in der EU seit Ausbruch der Wirtschaftskrise die hochentwickelte Kultur des Kuh-Handels, das sage ich ganz unironisch, nicht mehr ausreichend gelingt, liegt meines Erachtens vor allem an zwei Gründen. Zum einen schwindet in allen unseren Mitgliedsländern die innere Kohäsion. Die gesellschaftlichen Spaltungslinien werden schärfer, die gesellschaftlichen Widersprüche tiefer, die Kräfte des Zusammenhalts schwächer. Die Entwicklung des Gini-Koeffizienten, der Ungleichheit bei der Reichtumsverteilung anzeigt, spricht Bände. Immer größere Teile der Gesellschaft in den unteren Regionen des Verteilungsgefüges verlieren de-facto den Kontakt zum gesellschaftlichen Zusammenhang, hören auf als gesellschaftliche Akteure eine Rolle zu spielen, während am oberen Ende der Skala sich eine immer arrogantere Finanzaristokratie aktiv der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht. Andere Spaltungslinien ergeben sich aus identitären Diskursen. Eine Gesellschaft aber, deren innere Zusammengehörigkeit immer stärker untergraben wird, verliert Kompromissfähigkeit gegenüber äußeren Partnern. Jeder Handelsvertrag, jede fiskalische Solidaritätsregel zwischen EU-Mitgliedern, selbst jede Investitionsstrategie droht unter solchen Bedingungen Futter für das innere Gegeneinander in den Mitgliedsstaaten abzugeben. Einfach gesagt: es fällt immer schwerer, die EU zusammenzuhalten, weil es immer schwerer fällt, unsere Gesellschaften zusammenzuhalten.
Verschärft wird diese Entwicklung dadurch, dass von außen her, von jenseits der EU-Grenzen, in schneller Folge vielfältige Herausforderungen auf uns zukommen, in denen sich die tiefgreifende Verschiebung globaler Wirtschafts- und Machtverhältnisse abbildet. Folgte früher eine Krise der anderen so ist heute die Gleichzeitigkeit vieler Krisen der neue Normalzustand. Zusammengenommen bewirken die Herausforderungen, welche sich aus den durch die Globalisierung hervorgerufenen Transformationen ergeben, und die schwindenden Konsensräume wegen schwindender Kohäsion der Mitgliedsstaaten, dass Europa am Ende weniger liefert, als die Bürgerinnen und Bürger erwarten und auch objektiv nötig wäre.
Die Krise der Europäischen Ebene entspringt also nicht auf der Europäischen Ebene. Aber wir können sie nicht ohne die Europäische Ebene bewältigen. So schwer das ist, wir können die Europäische Ebene nur retten, wenn wir es schaffen, dass wir auf ihr Energien entfalten, die geeignet sind, den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso zu stärken, wie die Europäischen Beiträge zur Bewältigung globaler Herausforderungen. Europa muss sich seiner gemeinsamen globalen Verantwortung stellen und seiner gemeinsamen Verantwortung für gesellschaftliche Synthesis.
Ich glaube nicht, dass es für diese doppelt-schwere Aufgabe nötig ist, jetzt ein großes Europäisches Institutionen-Pow-Wow zu veranstalten. Aber offenkundig ist es elementar, dass wir Grüne Initiative zeigen, um darüber breite, öffentliche Diskurse zu ermöglichen. Auf die Strasse, zu den Bürger*innen reden, erklären, streiten. Sonst wird dieses Brexit der Anfang vom Ende.