#91 Bütis Woche: Die EU darf Rüstung nicht finanzieren. Aber sie plant, es trotzdem zu tun.

Von der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet wird derzeit in Brüssel an einer grundlegenden Neuorientierung der europäischen Sicherheitspolitik gearbeitet. Um es auf den Punkt zu bringen: Während Paragraph 41(2) des Vertrages über die Europäische Union ausschließt, dass europäische Budgetmittel für Rüstungsbeschaffung ausgegeben werden, wollen Kommission und Europäischer Rat und, wie es aussieht, eine Mehrheit im Europäischen Parlament, genau dies für die Zukunft durchsetzen. Getarnt wird das ganze Unterfangen als industriepolitische Initiative. Man wolle nach Artikel 173 die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie stärken; deshalb gebe es keine Bedenken gegen das Vorgehen. Nun könnte man über die Anwendbarkeit von Artikel 173 streiten. Nicht streiten kann man jedoch darüber, dass Artikel 173 keine Ausnahmeregelung gegenüber Artikel 41(2) darstellt. Doch offenbar sind in Erwartung einer neuen Subventionsspritze für die europäische Rüstungslobby die Schamgrenzen außerordentlich niedrig.

Wohlgemerkt: Dass Europa mehr gemeinsam für die gemeinsame Sicherheit tun muss, steht außer Frage. Darüber habe ich bereits in einer früheren Bütis Woche einmal geschrieben. Wenn also die Kommission eine Initiative ergreift, um zur Beförderung dieses Zieles Kooperation bei der Rüstungsbeschaffung voranzutreiben, sollte man meines Erachtens aus grüner Sicht dagegen keine Grundsatz-bedenken haben. Tatsächlich aber ist der Vorstoß der Kommission so konstruiert, dass er das proklamierte Ziel nicht erfüllen wird, dass er also die Einschränkung der riesigen Geldverschwendung im Rüstungssektor und die Schaffung von mehr Effizienz bei der Rüstungs-beschaffung nicht erreichen wird, dass er zu einem weiteren Wachstum der ohnehin überdimensionierten Rüstungsindustrie führen wird und dass er uns mit noch mehr Rüstungsexporten konfrontieren wird. Apropos überdimensionierter Rüstungssektor und Ineffizienz: Wo die USA 30 Waffensysteme haben, haben die Europäer 173; in Europa gibt es mehr Produzenten von Militärhubschraubern als Regierungen, die diese kaufen können; wegen weitgehender Duplizierungen und mangelnden Wettbewerbs werden derzeit nach Kommissionsschätzungen pro Jahr von den europäischen Mitgliedsländern zwischen 25 und 100 Milliarden Euro zu viel ausgegeben.

Das ist ein Missstand, der schon lange weitgehend unbeanstandet zum Himmel stinkt und den anzugehen absolut notwendig ist. Aber unter der Hand verwandelt sich die unterstellte Absicht der Kommission, eben dies zu tun, in das Gegenteil. „Carrots and sticks“ werden nicht funktionieren, so wie Junckers Truppe das anpackt. Zwar soll viel Geld auf den Tisch gelegt werden, aber nicht als Zuckerbrot unter der Bedingung, dass das Richtige getan wird, sondern effektiv zur Fortsetzung des Status Quo mit mehr öffentlichen Mitteln. Und die Peitsche legt man ganz zur Seite. Seit 2009 gibt es etwa eine Defence Procurement Directive, die für mehr kostensparenden Wettbewerb im Rüstungsbereich sorgen könnte, aber bisher nicht angewendet wurde.

Es gibt viel zu kritisieren am Vorgehen der Kommission und an der Art, wie der Rat bisher darauf eingestiegen ist. Unter dem Druck des europäischen politischen Kalenders wird da schlechte Arbeit geleistet. Offenbar soll noch vor der Europawahl und vor der Neu-aufstellung der Europäischen Kommission 2019 das Thema abgearbeitet und abgehakt werden. Und weil die Zeit knapp ist, wird geschludert. Am Ende profitiert so nur die Rüstungslobby.

Ein Vertreter der Rüstungsbranche präsentierte deren Vorstellungen bei einer Anhörung im Industrieausschuss sehr deutlich: 1. Man will bis zu 100 % der Entwicklungskosten öffentlich finanziert bekommen. Die Berichterstatterin aus der EVP sah in ihrem Überschwang sogar ursprünglich vor, 110 % der Kosten zu erstatten. 2. Man will danach die ausschließlich öffentlichfinanzierte Technologie uneingeschränkt privat besitzen. Es gibt bisher kein anderes EU-Finanzierungsprogramm, das 100 % der Kosten für irgendeine industrielle Entwicklung trägt und das geistige Eigentum danach vollständig Privatfirmen überlässt. 3. Man will die entsprechende Technologie ohne jegliche Einschränkung exportieren können. Das ist schon ein ziemlich unerhörtes Paket. Aber es kommt noch besser. Während das Europäische Parlament in der Vergangenheit klare Positionen gegen bestimmte Waffentechnologien, wie z. B. Clusterbomben, eingenommen hat, soll ein expliziter Ausschluss solcher Technologien von der Rüstungsfinanzierung verweigert werden. Ebenso wenig will man unserer Forderung nachkommen, dass vor der Subventionierung der Entwicklung von bewaffneten Drohnen wenigstens Rahmenvorschriften für deren Einsatz geschaffen werden müssten. Und bei der Entscheidung über die Mittelverwendung will die Industrie auch direkt selbst mitreden. In zwei entsprechenden Gremien sollen ihre Vertreter mitberaten können, aber Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen, wirklich unabhängige Wissenschaftler, Vertreter von Friedensforschungsinstituten oder gar Parlamentarier nicht. Auch bei der Weiterentwicklung der Rüstungsprogramme über die Jahre soll nach bisheriger Vorlage die Kommission alleine mit den Rüstungsvertretern entscheiden. Die Einbindung des Europäischen Parlaments und damit dessen Aufsicht soll ausgeschlossen sein. Wenn Präsident Abraham Lincoln in seiner Gettysburg Address sagte, Demokratie sei „governement of, by and for the people“, so muss man bei diesem Defence Package sagen, es handelt sich um Selbstbedienung „of, by and for the military-industrial complex“.

So sehr das alles gar nicht geht, so sehr wird es noch dadurch getoppt, dass die europäische Sicherheit nicht oder nur minimal von dem ganzen Zirkus profitieren wird. Denn der Anreiz bzw. der Zwang, endlich die Duplizierungen und die endlosen Ineffizienzen durch europaweite Zusammenarbeit zu überwinden, kommt gar nicht zustande. So soll nach Plänen der Kommission z.B. der Subventionstopf bereits geöffnet werden, wenn drei Firmen aus zwei Ländern kooperieren. Nach der Regel könnten zahlreiche bereits bestehende bilaterale Projekte in Zukunft aus Brüssel Geld abholen, ohne dass sich ansonsten irgendetwas ändert. Zahlreiche Interessenvertreter, vor allem aus kleineren EU-Ländern, kämpfen darum, dass sie von dem neu ausgeschütteten Geld auch eine Schnitte abbekommen sollen. Deshalb wird offen oder verdeckt dafür gekämpft, dass die Subventionsmittel irgendwie nach regionalem Proporz verteilt werden. Darüber verschwindet dann natürlich jeder Anreiz in Richtung Effizienz. Kommission und Rat haben dazu übrigens bereits eine wunderbare Scharade aufgeführt. Die Kommission benannte als Kriterium für die Projekte einfach „Exzellenz“. Ohne jegliche Präzisierung. Ein solches Kriterium ist natürlich Geschwätz. Das fiel dem Rat wohl auf. Deswegen bemühte er sich, einige der Kriterien näher auszuführen. Er fand dann aber eine andere pfiffige Lösung, um zu verhindern, dass Projekte wegen Nichterfüllung von Kriterien möglicherweise unter die Räder kämen, obwohl das eine oder andere Land unbedingt darauf besteht. Man schrieb schlicht unter die Liste der Kriterien den lakonischen Satz, dass Nichterfüllung der Kriterien durch ein Projekt kein Ausschlussgrund wäre. Superelegante Lösung, oder?

In der Anhörung im Industrieausschuss argumentierte der Rüstungslobbyvertreter übrigens auch, man müsse derzeit so viele Waffen aus Europa exportieren, weil die durch heimische Aufträge nicht ausgelastete Industrie sonst nicht überleben könnte. Er bestätigte damit de facto das Argument von den Rüstungsüberkapazitäten, aber im so genannten Europäischen Verteidigungsindustrieentwicklungs-programm (EDIDP) wird ausdrücklich zum Ziel erklärt, dass die europäische Rüstungsindustrie insgesamt wachsen solle. Logische Konsequenz: mehr Rüstungsexporte.

Die Mehrheitssituation im Industrieausschuss sieht nicht schön aus. EVP und Liberale und ECR und die überwiegende Mehrheit der Sozialisten sind dafür. Die Grünen sind, zusammen mit einigen deutschen Sozialdemokraten, die Opposition. Die Linke engagiert sich erstaunlicherweise nur halbherzig. Ob dieser Mehrheitsverhältnisse haben wir uns die Mühe gemacht, darzulegen, auf welche Art und Weise man das Ziel stärkerer Kooperation zur gemeinsamen Sicherheit, die noch dazu mit Kosteneinsparung verbunden werden könnte, realisieren kann. Unser Antrag sieht so aus: Statt das Budget zu plündern, nach den Plänen der Kommission übrigens zu Lasten wichtiger Forschungsprogramme, soll das Verbot des Artikels 41(2) TEU eingehalten werden. Stattdessen soll die Europäische Kommission sich darauf konzentrieren, wettbewerbliche Rahmenbedingungen durchzusetzen und die Sparpotenziale zu mobilisieren, die, wie bekannt, im zweistelligen Milliardenbereich liegen und damit wesentlich größer sind als die neuen Subventionen, die nun ausgereicht werden sollen. Die Europäische Verteidigungsagentur EDA würden wir abschaffen, denn sie hat sich als ineffizient erwiesen. Sie ist daran gescheitert, dass die Mitgliedsländer sie regelmäßig mit Misstrauen verfolgten, weil sie vermuteten, es handele sich dabei um eine Institution, die nur dazu diene, sich in nationale sicherheitspolitische Entscheidungen einzumischen. Wir sind überzeugt, dass die erforderliche Zusammenarbeit aus den vorhandenen nationalen Haushalten finanziert und die dafür anfallenden Kosten nach dem bestehenden ATHENA-Finanzierungsmechanismus aufgeteilt werden können.

Haben wir im Europäischen Parlament mit unseren Vorstellungen eine Chance? Für uns günstige Abstimmungsmehrheiten sehe ich nicht. Aber ich glaube, es gibt die Chance Einfluss zu nehmen von zwei Seiten her: von der juristischen und von der Seite der Mitgliedsländer, die von Rüstungssubventionen nicht viel profitieren werden, aber bei der Kürzung bisheriger Forschungsprogramme viel einzubüßen drohen. Vor allem aber wäre es wichtig, dass die Öffentlichkeit aufwacht.


Sonst noch
  • Nachdem das Bergamt Stralsund bereits im Dezember eine Teilgenehmigung für Nord Stream 2 erteilt hat, genehmigte es nun am 31. Januar den Bau und Betrieb der Gaspipeline in den Gewässern vor Stralsund. Gemeinsam mit Annalena Baerbock kritisiere ich die Genehmigung in einer Presseerklärung.
  • Am 30. Januar habe ich in einer Veranstaltung mit dem Mercator Institute for China Studies über die interessante Studie „Ideas and ideologies competing for China’s political future – How online pluralism challenges official orthodoxy“ diskutiert. Die Studie ist hier zu finden.
  • Am 31. Januar nahm ich an einer Konferenz der Kommission zur Zukunft der Europäischen Stahlindustrie teil und habe über die Möglichkeiten von CO2-freier Stahlproduktion gesprochen.
  • Ich diskutierte letzte Woche bei rbb Inforadio über die „neue Supermacht“ China. Hier ist der Podcast.
  • Die kommende Woche ist eine Straßburg-Woche. Viele Themen stehen auf der Agenda: zukünftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (hierbei geht es u. a. um die mögliche Einführung von transnationalen Wahllisten), Sonderausschuss „Genehmigungs-verfahren der Union für Pestizide“, Kosteneffizienz von Emissions-minderungsmaßnahmen, Aussprache mit dem Ministerpräsidenten Kroatiens, Andrej Plenković, über die Zukunft Europas und mehr.
  • Am Samstag habe ich meinen letzten diesjährigen Neujahrsempfang bei den Grünen in Buxtehude. Hier werde ich über den Stand und die Zukunft der Europäischen Union sowie die Rolle von Bündnis 90/Die Grünen sprechen. Schaut gerne vorbei!